Redekunst als "Kochkunst für die Seele"? Ein Interpretationsversuch von "Gorgias", 462b3-466a3.
In diesem Aufsatz wird versucht, eine Interpretation der Bestimmung der Redekunst zu geben, die der platonische Sokrates in Gorgias 462b3–466a3 durch verschiedene Analogien kryptisch andeutet. Es soll vor allem geklärt werden, 1) warum der platonische Sokrates die Redekunst als Trugbild (eidólon) eines Teils der Politik, und zwar der Richtkunst (techné diakiósyné) bezeichnet, und 2) warum er die Redekunst mit der Kochkunst vergleicht. Es wird versucht, diese Fragen in erster Linie aus dem Gesamtkontext des Dialoges zu beantworten. Wo es für die Interpretation nötig ist, musste allerdings auf Stellen aus anderen platonischen Dialogen zurückgegriffen werden.
Auf die zwei Hauptfragen werden folgende Antworten vorgeschlagen: Die Redekunst wird vom platonischen Sokrates als ein Trugbild der Richtkunst bezeichnet, weil sie jene „Schmeichelei“ ist, die sich in die Richtkunst „eingeschlichen hat“. Als eine „Schmeichelei“ wird sie vom platonischen Sokrates bezeichnet, weil sie sich (a) um die eigentliche Aufgabe der Richtkunst, d.h. um die Widerherstellung des guten Zustandes der Seele, nicht kümmert, weil sie (b) nicht weiß, worin dieser Zustand besteht, weil sie (c) den unvernünftigen Menschen durch das Versprechen, ihm beizubringen, wie man andere der eigenen Herrschaft unterwerfen kann, verblendet, so dass er sie schließ lich für die wahre politische Kunst hält. Darin ist die Redekunst der Kochkunst ähnlich. Auch die Kochkunst ist nämlich eine Art von „Schmeichelei“ (kolakeia), die zum Leib eine ähnliche Be ziehung hat, wie die Rhetorik zur Seele. Die eigentliche Analogie zwischen Koch- und Redekunst besteht aber darin, dass sie sich in zwei Künste „eingeschlichen haben“, d.h. Richtkunst und Heilkunst, die auf eine analoge Art und Weise für ihr Pflegeobjekt sorgen (indem sie es wiederherstellen, wenn es durch ungerechtes Handeln bzw. Krankheit beschädigt wurde).
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