Unsterbliche Psychê und wandernder Daimôn

Hynek Bartoš

Wenn wir Diogenes Laertius’ Idee von den zwei unabhängigen philosophischen Traditionen (I,13) folgen, können wir zwei unterschiedliche Konzeptionen der Seele in der schriftlich überlieferten vor-platonischen Tradition erkennen. In der „ionischen“ Auffassung wurde die Seele (Psychê) als Lebenskraft und somit als psychisches Zentrum der Emotionen, der Hoffnungen, der Sprache, des Intellektes usw. aufgefasst. In der „italienischen“ Auffassung finden sich häufig Spekulationen über ein unsterbliches „okkultes“ Selbst (ähnlich der eschatologischen Psychê bei Homer), das in einigen Versionen auch von einer Theorie der Reinkarnation begleitet wird. Gleichgültig ob man das Selbst als eidôlon, daimôn oder psychê verstand, war es immer frei von allen psychologischen Kontexten. Dieser Artikel versucht aufzuweisen, dass Platon der erste Denker war, der die beiden genannten, nicht miteinander zu vereinbarenden Konzeptionen der Seele absichtlich kombinierte.