Rabbi sagte im Namen des Rabbi

Milan Lyčka

Volltext (PDF): Rabbi sagte im Namen des Rabbi (Zusammenfasung)

Der rabbinischen (pharisäischen) Tradition zufolge existieren zwei Arten der Überlieferung der göttlichen Erscheinung: die schriftliche und die mündliche Thora. Die pharsäische Interpretation des biblischen Textes war im Unterschied zur Interpretation der Sadduzäer, den Hauptrivalen der Pharisäer, beweglicher, doch haben die Rabbiner, um die Authentizität ihrer kritischen Sachanalyse sicherzustellen, dem Begriff der mündlichen Thora den Weg gebahnt: der selbständigen Tradition, die ihren Ursprung ebenfalls von Moses auf dem Berg Sinai ableitet, sich aber vom schriftlichen Wortlaut des Gesetzes grundlegend unterscheidet. Eine Vermischung beider Traditionen war nicht erlaubt, wenn auch in den rabbinischen Schulen die Texte beider Traditionen auswendig gelernt wurden. Ihr öffentlicher Vortrag entsprach dem jeweiligen Textzusammenhang: die schriftlichen Texte mußten vorgelesen, die mündlichen „Texte“ auswendig vorgetragen werden. Um die Überlieferung der traditionellen Lehren sicherzustellen, hielten die Rabbiner ihre Studenten dazu an, diese gemeinsam mit den Namen von deren angeblichen „Autoren“ auswendig zu lernen. Die meisten Sprüche waren jedoch nicht ursprünglich sondern entstammten von früheren Autoritäten, so daß sich charakteristische Aussagen entwickelten wie: „Rabbi sagte im Namen des Rabbi…“, die sich immer weiter verketteten: „Rabbi X sagte: Rabbi Y sagte, daß Rabbi Z sagte…“ Das Zitieren war jedoch nur das erste Stadium des pädagogischen und exegetischen Prozesses, da zwischen der genauen Zitierung der angesehenen Autoren und ihrer Neuinterpretation stets eine Spannung besteht. Die naheliegende Lösung der Rabbiner bestand darin, daß man jede neue, aber richtige Deutung als die wörtliche Explikation dessen betrachtete, was bereits implizit im vorherigen Ausspruch enthalten war. Auf diese Weise eröffneten die Rabbiner den Weg zu einem exegetischen Bildungsprozeß und sicherten gleichzeitig die Gültigkeit und Verbindlichkeit dieses Prozesses.