"Plato im Dialog"

Štěpán Špinka

Volltext (PDF): "Plato im Dialog"

Wenn die gegenwärtige Philosophie zu ihren griechischen Anfängen zurückgeht, sucht sie nicht vor allem fertige Antworten und schon einmal ausgetretene Wege des antiken Denkens, sondern vielmehr die vergessenen Scheidewege und die von ihnen ausgehenden Pfade, die die antike Philosophie angedeutet hat, aber schließlich beiseite gelassen hat. Einer der bedeutendsten Repräsentanten dieser schöpferischen Archäologie der europäischen Philosophiegeschichte ist Hans- -Georg Gadamer. Der Untertitel des siebten Bandes seiner Gesammelten Werke, „Plato im Dialog“, bringt in seiner Mehrdeutigkeit nicht nur mehrere grundlegende Akzente der Interpretation Gadamers zum Ausdruck, sondern auch ihre enge Verbindung. (1) Im ersten Sinn können wir den Untertitel „Plato im Dialog“ als einen Ausdruck der Überzeugung Gadamers über die Schlüsselrolle des sokratischen Dialogs für die ganze platonische Philosophie interpretieren. Nach Gadamer haben auch die „späte“ Dialektik der Vereinigungen und Teilungen und die sogenannte „ungeschriebene Dialektik“ als ausgearbeitete Reflexionen der Endlichkeit unserer Sprache und all unserer Erkenntnis die zentrale sokratische Frage – die Frage nach dem Guten – nicht verlassen. (2) Mit dem Titel „Plato im Dialog“ bezeichnet aber Gadamer auch das Prinzip seiner Interpretationsmethode. Denn er nähert sich dem eigentlichen Sinn der platonischen Philosophie so, daß er dem Dialog folgt, der Platon mit seinen Vorgängern führt – und seinen Nachfolger umgekehrt mit ihm. Nach Gadamer sind vor allem in der Dreiheit Sokrates-Platon-Aristoteles wie im Keim die Hauptmomente der ganzen geschichtlichen Bewegung der griechischen und am Ende auch europäischen Philosophie enthalten: „das sokratische Wissen der Unwissenheit über das Gute“ hat in der abendländischen Philosophie die „Wendung zu den ,Logoi‘“ – und d. h. zu der „Eidos-Philosophie“ – gebracht und Aristoteles ist für Gadamer der Denker, der „die sokratische und platonische Intention in die vorsichtig tastende Sprache philosophischer Begriffe überführt“. Die Entstehung der philosophischen Begriffe bringt aber nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust mit sich. Diese Ambivalenz jeder Präzisierung unserer Sprache zeigt Gadamer an zwei Begriffen, mit denen Aristoteles nach Gadamers Überzeugung den eigentlichen Kern der einheitlichen Linie der griechischen Philosophie erfaßt: phronesis und praxis. Praxis bezeichnet nach Gadamer die eigentliche Form unserer ursprünglichen Situiertheit in der Welt und phronesis die reflexive Sorge darum, daß wir dieser Situiertheit in unserem Leben gerecht werden. (3) Gadamer ist aber nicht nur ein unbeteiligter Beobachter dieser geschichtlichen Bewegung der europäischen Philosophie. Ihm ist klar, daß auch er in dieser „Wirkungsgeschichte“ steht, und er möchte selber einen „Dialog“ mit Plato führen, in dem er eine schöpferische „sokratische Destruktion“ – und das heißt eine hermeneutische „Abdeckung der Verdeckungen“ – der aristotelischen und nacharistotelischen philosophischen Sprache in seinen Interpretationen verwirklicht. (4) Diesen Dialog mit Platon führt aber Gadamer so, daß er zwischen seinen zwei großen Lehrern, Platon und Heidegger, ein Gespräch zu vermitteln versucht und in der neuen hermeneutischen Situation die sokratisch-platonisch-aristotelische „Idee der Praktischen Philosophie“ fortzusetzen. Die vorliegende Studie endet mit einigen Fragen, inwiefern und unter welchen Bedingungen solche Vermittlung zwischen Platos Dialektik und Heideggers Denken des Seins überhaupt möglich und fruchtbar sein kann.