Jan Patočkas Ketzertum in den Betrachtungen über die Krise Europas

Ivan Chvatík

Volltext (PDF): Jan Patočkas Ketzertum in den Betrachtungen über die Krise Europas

Der vorliegende Vortrag will aufweisen, worin das Ketzerische der Ketzerischen Essais bestehen könnte, deren Anstößigkeit manche bestätigen, denen sie aber ratlos gegenüberstehen.

Von Beginn seiner denkerischen Laufbahn an ist Patočka fasziniert vom platonischen Ideal der vollkommenen Gemeinde, obwohl er die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung sieht. Denn er weiß, daß in dieser Richtung der verborgene und der zu erweckende Sinn der Menschlichkeit liegt. Das führt ihn zu einer lebenslangen Betrachtung über die Philosophie der Geschichte. Aufgrund einer eingehenden Untersuchung der ontologischen Problematik stimmt er Heidegger zu, daß es notwendig ist, die Husserlsche Phänomenologie zu reformieren. Er identifiziert sich aber nicht mit der Heideggerschen Lösung und gelangt, getreu seinem platonischen Ansatz, zu der Einsicht, daß die Geschichte Europas nur dadurch Geschichte ist, insofern in ihr die Sorge für die Seele im Sinne eines Bezugs der endlichen, sterblichen Seele zur transzendenten Quelle alles Sinns aufrechterhalten wird. Dieser Bezug, den man auch um den Preis des eigenen Lebens hüten soll, macht die Seele unsterblich. Den darin enthaltenen Widerstreit versteht Patočka als einen Konflikt im Sein selbst. Aus dem platonischen Ansatz entwickelte sich ein negativer Platonismus: der Mensch steht nur in indirektem Kontakt mit dem absoluten Sinn und der absoluten Wahrheit, wohl aber als mit etwas, was der individuellen menschlichen Situation Sinn verleiht. Die Lösung dieses Konflikts sei die Geschichte. Ihre Schrecken und Opfer sind der Preis, den man in dem geschichtlichen Ringen um den Sinn bezahlen muß. Das Ketzerische in Patočkas Stellungnahme sehen wir darin, daß er diese dunklen Elemente der menschlichen Geschichte und des Seins überhaupt enthüllt und ihnen zustimmt.

Wir sind jedoch der Meinung, daß man die von Heidegger und Patočka angesetzte Überwindung des Metaphysischen in unserem Geschichtsverständnis und die Bejahung der Endlichkeit unserer menschlichen Existenz überhaupt noch weiter treiben muß – bis zur Aufgabe der Idee eines absoluten Sinnes. Denn diese Idee, sei sie auch negativ und in ihrer Positivität als unerreichbar aufgefaßt, ist unserer Meinung nach, im Unterschied zu Patočka, nicht Bedingung, sondern wesentliches Hindernis für die individuelle menschliche Situation, Sinn haben zu können.