Die Erfahrung der Geschichte und die geschichtliche Erfahrung
Volltext (PDF): Die Erfahrung der Geschichte und die geschichtliche Erfahrung
Gadamers Begriff des „wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins“ zieht die Konsequenzen aus der Problematik des Historismus, der die reflexive Einsicht in die Geschichtsgebundenheit wissenschaftlichen Erkennens nicht mehr mit dem eigenen Reflexionspunkt vermitteln konnte, in dem Geschichte als Objekt dieses Erkennens erschien. Der hermeneutische Begriff der „Wirkungsgeschichte“ überschreitet den Horizont methodisch geleiteter Objekterkenntnis, indem er die Vorstruktur allen Verstehens thematisiert. Die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens gründet demnach in der vorgängigen Erschließung eines „Welt“ genannten Sinnzusammenhanges, der sich in der Durchdringung von überlieferten Traditionen und ihrer Applikation auf die jeweilige Gegenwart herausbildet. „Geschichte“ ist demnach immer schon verstandene und vergegenwärtigte, ebenso wie jedes Verstehen in das überlieferte, Sinn konstituierende Überlieferungsgeschehen hineingehalten ist. Die Problematik der Hermeneutik Gadamers besteht darin, daß sie diesen aus der Verbindung von Überlieferung und ihrer jeweiligen Vergegenwärtigung gebildeten Horizont einer „Wirkungsgeschichte“ nun seinerseits unvermittelt voraussetzt, ohne nach der Möglichkeit seiner Darstellung im jeweils nur bestimmt möglichen Vollzug subjektiven Verstehens zu fragen. So gerinnt Gadamer die Wirkungsgeschichte zur selbst unhistorischen Voraussetzung des Verstehens, die das Moment geschichtskonstitutiver Subjektivität aus dem Blick verliert. Die Frage nach der Darstellbarkeit von Geschichte im seinerseits geschichtskonstitutiven Akt singulären Verstehens eröffnet demgegenüber den Blick auf einen erweiterten Begriff der Erfahrbarkeit geschichtlicher Wirklichkeit, in der sich Erleiden und „Machen“ von Geschichte unauflöslich und sich gegenseitig ermöglichend durchdringen.
Trackbacks: Reflexe 16