Die Gerechtigkeit als Besonnenheit der Seele im Dialog Gorgias

Aleš Havlíček

Wenn auch Platons Dialog Gorgias den Untertitel ἤ περὶ ῥητορικής (über Rhetorik) hat, und wenn dieser auch weder mit der Frage nach der Gerechtigkeit beginnt, noch die Gerechtigkeit zum Hauptthema macht, spielt trotzdem im Gorgias die Gerechtigkeit die Hauptrolle. Die Widerlegung von Gorgias’ Auffassung der Rhetorik ist nur möglich mit der Einführung der Gerechtigkeit, wie auch die Widerlegung von Polos’ Auffassung der Rhetorik als Macht nur mit der Unterscheidung zwischen gerechtem Handeln und dem Gerechtsein möglich ist. In der Diskussion mit der dritten Person, Kallikles, über die Frage „Wie soll man leben?“ ist sogar die Gerechtigkeit das Hauptthema. Denn wenn wir fragen „Wie soll man leben?“, fragen wir eigentlich nach der Norm unseres Handelns. Kallikles, für den die Norm die Ungebundenheit, Freigebigkeit, d.h. keine Einzwängung der Begierden ist, gibt auf diese Frage eine ganz naturalistische Antwort. Solche Position führt zur Macht in der Polis, Macht, die die gerechte Äusserung des Gesetzes der Natur ist. Dem gegenüber ist im Dialog noch eine ganz andere Antwort gegeben, die der Lebensweg ohne absolute Normen ist, der Weg der vernünftigen Auffassung, der auf die Ordnung der Seele als Ganzes zielt. Dann bedeutet die Gerechtigkeit die Ordnung, die Harmonie der Seele. Der Mensch, der nach der Harmonie der Seele strebt (ἀσκεῖν), die dann eine gewisse Form (εἶδός τι) annimmt, ist dann gerecht. Weil die Seele als harmonisches Ganze wegen der menschlichen Unvollkomenheit – die sich auch im unserem Verhältnis zur unerreichbaren, aber ständig begehrten Weisheit zeigt, –, unfassbar ist, bleibt für uns nur das ständige Streben nach ihrer Harmonie übrig.