Das Problem der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem bei Boëthius The Ontological Difference as a Problem in Boëthius

Václav Němec

Der Aufsatz geht der Frage nach, ob bei Boëthius die „ontologische Differenz“ von Sein und Seiendem nachgewiesen werden kann. Zu diesem Zwecke wird die Bedeutung der in De hebdomadibus vorkommenden Termini esse und id quod est untersucht. Dabei wird diejenige Interpretation kritisch hinterfragt, der zufolge  esse den reinen Seinsakt bezeichnet, während id quod est für das Seiende steht. Gerade das Gegenteil ist jedoch der Fall: Boethius fasst esse als die (substantielle) Form und id quod est als die konkrete aus Form und Materie bestehende Substanz auf. Diese Auslegung wird durch weitere theologische Schriften des Boethius bestätigt, in denen esse der Form ausdrücklich gleichgesetzt wird. Die Distinktion zwischen Sein und Seiendem findet sich zwar in den theologischen Schriften des Marius Victorinus und im Anonymen Parmenides-Kommentar, sie kann aber nicht mit der Unterscheidung zwischen esse und id quod est in De hebdomadibus identifiziert werden. Boethius dürfte diese Unterscheidung vielmehr den antiken Aristoteles-Kommentatoren Themistios und Alexander von Aphrodisias entnommen haben. Diese Annahme wird durch die Tatsache bekräftigt, dass bei Alexander eine fast wörtliche Parallele zum II. Axiom aus De hebdomadibus vorkommt.