Die moralische Tugend nach von Hildebrand mit Rücksicht auf Aristoteles

Martin Cajthaml

Der Aufsatz stellt Dietrich von Hildebrands Auffassung der sittlichen Tugend im Verhältnis zu Aristoteles‘ Tugendlehre dar. Somit kann er als ein Beitrag zur allgemeineren Frage nach von Hildebrands Bezugnahme auf die Aristotelische Ethik bzw. nach der Stellung seiner Ethik innerhalb des westlichen ethischen Diskurses überhaupt betrachtet werden. Da er seine Auffassung der sittlichen Tugend vor dem Hintergrund einer teils impliziten, teils expliziten Kritik an der Aristotelischen Lehre entwickelt, ist es für eine objektive Bestimmung wichtig, auch gelegentliche Missverständnisse der aristotelische Lehre seitens von Hildebrands in Betracht zu ziehen. Wenn diese allerdings ausgeräumt sind, so zeigt sich, dass beider Auffassungen der sittlichen Tugend sich wesentlich näher stehen, als es von Hildebrand selbst allem Anschein nach dachte.
Zunächst werden Unterschiede in der Auffassung der Tugend als Habitus dargestellt, die ihre Wurzeln in einer abweichenden Auslegung des Habitus der Tugend haben („ein Habitus des Wählens, der die in Bezug auf uns bemessene Mitte hält, gemäß der Bestimmung durch die Vernunft, und zwar so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt“ bei Aristoteles und „eine allgemeine überaktuelle Wertantwort“ bei von Hildebrand). Ferner wird gezeigt, dass von Hildebrands implizite Kritik an der Aristotelischen Betonung der positiven Bedeutung der Gewohnheit auf einem (übrigens häufigen) Missverständnis dessen beruht, was in diesem Zusammenhang Gewohnheit ist und wie sie zur Gestaltung des Habitus beiträgt. Die Unterschiede in der Auffassung der Beziehung zwischen der Gewohnheit und dem Habitus der Tugend in beiden Lehren sind demnach wesentlich kleiner, als es zunächst ausschaut. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Autor auch in seiner kritischen Analyse der expliziten Kritik an Aristoteles‘ Mesotes-Lehre. Es bleibt das Fazit, dass von Hildebrands Lehre von der sittlichen Tugend trotz erheblicher Unterschiede in Methode sowie begrifflicher Ausarbeitung der sittlichen Phänomene der Aristotelischen Lehre wesentlich näher steht, als er selbst es vermutete.